Freitag, 5. Oktober 2012

Charkiw

3./4.10.2012

Zwei Tage wurden aus fußballerischem Anlaß in der Stadt im Osten der Ukraine verbracht, die ukrainisch Charkiw (Харків) und russisch Charkow (Харьков) heißt. Rund 1,4 Mio. Menschen leben hier, die überwiegende Mehrheit spricht russisch.

Am zentralen Platz der Stadt steht an markanter Stelle immer noch wie zu Sowjetzeiten das 1963 aufgestellte große Lenin-Denkmal. Die Zeit scheint stehengeblieben, erst 2009 wurde die Statue wieder renoviert. Geschichtspolitisch ist dies insofern interessant, als der in den 1920ern angelegte Platz nach der ukrainischen Unabhängigkeit Freiheitsplatz (ukrainisch Площа Свободи, Plóshcha Svobodý, russisch Площадь Свободы, Plóshchad' Svobódy) benannt wurde.


Blick vom Lenin-Denkmal über die eine Hälfte des Platzes, der etwas weniger als 12 Hektar umfaßt, zwischen 690-750 x 96-125 Meter) und damit der sechstgrößte Platz Europas ist.


Die andere Seite des Freiheitsplatzes schließt ein Hauptwerk der Architektur des Konstruktivismus ab, das zwischen 1925 und 1928 errichtete Haus der Staatsindustrie, ukrainisch Derschprom (Держпром), russisch Gosprom (Госпром). Es war ein Prestigebau der jungen Sowjetunion und Sitz der Landesregierung als Charkiw bis 1935 die Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik war. In Kiew war 1917 eine westorientierte ukrainische Regierung gebildet worden, während in Charkiw 1919 die Bolschewiki eine Regierung bildeten und im Bürgerkrieg bis 1920 schließlich die Oberhand gewannen. Der Komplex wurde in massiver Betonbauweise errichtet (und überstand daher den Zweiten Weltkrieg) und in nüchtern-sachlicher konstruktivistischer Architektur gestaltet, die wenig später in Ungnade fiel und in stalinistischer Zeit durch reichlich ausgeschmückte Stile ersetzt wurde.



Ein Beispiel späterer Architektur ist das nebenan stehende große Hauptgebäude der Universität aus den Jahren 1929 bis 1934 mit einem säulengeschmückten Eingang.


Neben der Universität steht ein 1999 aufgestelltes Denkmal für im Zweiten Weltkrieg kämpfende Studentinnen und Studenten. Um die bedeutende Industriestadt Charkiw/Charkow fanden zwischen 1941 und 1943 mehrere große Schlachten statt, zweimal wurde die Stadt von den Deutschen erobert und zweimal von der Roten Armee zurückerobert. 1943 war die Stadt großteils zerstört, von den einst 1,4 Mio. Einwohnerinnen waren nur mehr 170.000 in der Stadt. Insgesamt kamen in der Zeit der deutschen Besetzung rund 270.000 Menschen in der Oblast Charkow um. Kurz nach der deutschen Eroberung im Herbst 1941 hatte ihr Terror gegen die Zivilbevölkerung begonnen, rund 30.000 Menschen erschossen sie außerhalb der Stadt in Drobyzkyj Jar, darunter etwa 16.000 Jüdinnen und Juden. Frauen und Kinder brachten sie in zusätzlich eingesetzten Gaswägen um.


Das 1935 aufgestellte Denkmal des 1861 gestorbenen ukrainischen Dichters Taras Schewtschenko ist weniger durch die Statue seiner Person interessant als durch die Figurengruppe am Sockel. Sie erzählt in meisterhafter Darstellung die Geschichte der unterdrückten Menschen, die schließlich in der kommunistischen Revolution ihre Erlösung fanden.
Beim sowjetischen Bildprogramm ist zu berücksichtigen, das hier in den 1930ern neben dem landesweiten stalinistischen Staatsterrors in der Ukraine eine politisch herbeigeführte Hungersnot herrschte. Im Frühjahr 1933 verhungerten in der Stadt innerhalb weniger Monate 45.000 Menschen.



Am Rande des großen Taras-Schewtschenko-Parks befindet sich ein 2001 vom Fußballverein Metalist aufgestellter großer bronzener Fußball.


Blick über den Fluß Lopan, im Hintergrund das Universitätsgebäude.


Die zwischen 1898 und 1901 erbaute Mariä-Verkündigungs-Kathedrale. Die in typischem neobyzantinischem Stil gehaltene Kirche ersetzte die an gleicher Stelle stehende Verkündigungskirche aus dem 17.Jh.


Die Mariä-Himmelfahrt-Kirche aus den Jahren 1771 bis 1777 (Hintergrund rechts) ist vor allem durch den zwischen 1821 und 1845 davorgestellten, weithin sichtbaren Glockenturm (Vordergrund links) im Stadtbild präsent.


Ein interessantes Ensemble bilden die 1689 gestiftete, barocke Mariä-Schutz-Kathedrale − das älteste erhaltene Bauwerk der Stadt! − und links daneben die einer gleichnamigen Marienikone geweihte Ozerjankaer Kirche aus dem Jahr 1896. Die Ikone verschwand 1926 während einer Prozession.


Klassizistische Häuserfront am Verfassungsplatz (pl. Konstytuciji), rechts im Bild die Jugendstilfassade der Passage Dytjačyj svit („Kinderwelt“) aus dem Jahr 1925.


Wer glaubte, in der Ukraine muß es Anfang Oktober bereits kalt und unwirtlich sein, wurde eines besseren belehrt.


Das in den 1840er Jahren errichtete Gebäude der Kulturakademie.


Die Choralsynagoge aus dem Jahr 1913 ist eine der größten Synagogen der Ukraine. 1923 wurde sie wie viele andere religiöse Stätten in den frühen Jahren der Sowjetunion geschlossen und zunächst als Klubhaus, dann als Kino und für einen Sportverein genutzt. Seit 1990 dient das Gebäude wieder dem ursprünglichen Zweck.



Das privat betriebene Holocaust-Museum hatte leider nicht geöffnet. Ich hätte es gerne besucht.

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