Montag, 1. September 2014

Liberec

30.8.2014

Im nordböhmischen Liberec, früher unter dem deutschen Name Reichenberg bekannt, wurde ein Fußball geschaut. Rund 102.000 Menschen leben hier.

Das neue Rathaus wurde zwischen 1888 und 1893 erbaut und erinnert nicht von ungefähr stark an das Wiener Rathaus. Das zeugt auch vom Selbstbewusstsein des damaligen Reichenberger Bürgertums.


Eine Gedenktafel am Rathaus mit neun Gliedern einer Panzerkette erinnert an die Toten beim Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts zur Niederschlagung des Prager Frühlings. Am 21. August 1968 demonstrierte eine Menschenmenge friedlich gegen die Besetzung durch sowjetisches Militär. Ein Schützenpanzer eröffnete vor dem Rathaus das Feuer auf die Demonstration und tötete mehrere Menschen. Einige Tage lang gab es gewaltfreien Widerstand. So wurden am 23. August Straßenschilder der Innenstadt ausgetauscht, um die fremden Truppen zu verwirren. Fast jede Straße hieß nun Dubčekova ulice, um die Verbundenheit mit Parteichef Alexander Dubček zu zeigen. An der Spitze des Rathausturms entfalteten Kletterer eine große schwarze Fahne, ein Anklang an an den Roman Der brave Soldat Schwejk von Jaroslav Hašek.


Die deutsch-tschechische Sprachgrenze verlief seit dem Mittelalter etwa zehn Kilometer südlich der Stadt. Mit der Industrialisierung Nordböhmens stieg der tschechische Bevölkerungsanteil. 1860 war noch nur ein Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner tschechisch, 1900 waren es bereits acht Prozent. Die Industriestadt Reichenberg blieb aber überwiegend deutschsprachig. Nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie Anfang November 1918 bis zur Besetzung durch tschechische Soldaten am 15. Dezember 1918 regierte in Reichenberg eine deutschböhmische Landesregierung, die sich als Teil der deutsch-österreichischen Republik verstand. Eine Großdemonstration der Reichenberger Bevölkerung am 8. Dezember 1918 protestierte hier noch gegen die Eingliederung in die Tschechoslowakei. Eine verstärkte tschechische Zuwanderung und langanhaltende politische Konflikte folgten. Von Oktober 1938 bs Mai 1945 war Reichenberg an Hitlerdeutschland angegliedert, Tschechinnen und Tschechen wurden vertrieben und unterdrückt. Nach Kriegsende 1945 wurde die deutschsprachige Bevölkerung vertrieben und Liberec zur tschechischen Stadt.


Das heutige Divadlo F.X. Šalda wurde als Reichenberger Stadttheater 1882/83 errichtet. Entworfen wurde es vom Wiener Theaterarchitektenbüro Hellmer und Fellner, von denen in dutzenden Städten im damaligen Österreich-Ungarn Theater stammen.


Vom Bildhauer David Černý gestaltete Bushaltestelle hinter dem Theater (2005).



Hier stand die 1889 eingeweihte Synagoge der von 1619 bis 1939 bestehenden jüdischen Gemeinde von Reichenberg. Nach dem Anschluss an Hitlerdeutschland im Otober 1938 wurde die Synagoge im Zuge des Novemberprogroms vom 9./10. Hovember 1938 von örtlichen Nazis niedergebrannt und die Brandruine 1939 abgerissen. Seither war hier ein Parkplatz bis am 9. November 2000, am 62. Gedenktag, das „Haus der Versöhnung“ eröffnet wurde. Auf dreieckigem Grundriss (halber Davidstern) an der Stelle der zerstörten Synagoge steht hier nun eine neue Synagoge und eine öffentliche Bibliothek. 1912 hatten in Reichenberg 1.240 Jüdinnen und Juden gelebt. 1938 flüchteten angesichts der Nazi-Machtübernahme die meisten vorerst. Die 30 Zurückbleibenden wurden verhaftet. Nach 1945 entstand neues jüdisches Leben in Liberec. 1948 waren es wieder 1.105 Jüdinnen und Juden: Neben 37 zurückgekehrten Überlebenden und 182 ausländischen (sowjetischen) Soldaten waren es rund 1.000 Umgesiedelte aus der ehemals tschechoslowakischen und nun sowjetischen Kartpato-Ukraine im Osten der Slowakei.



Der jüdische Friedhof wurde 1864 eröffnet. In Massengräbern wurden auch Nazi-Opfer bestattet, darunter elf Frauen aus einem Arbeitslager und acht Tote aus einem Eisenbahntransport von Gefangenen von Jahresbeginn 1945. Im ehemaligen Tahara-Haus gibt es eine Holocaust-Gedenkstätte, in der die Namen der Reichenberger Ermordeten verzeichnet und Teile der Wandtäfelung der 1938 zerstörten Synagoge montiert sind. Leider waren die Öffnungszeiten nicht mit meinem Besuch kompatibel.



Reichenberg war Ende des 19.Jh. die zweitgrößte böhmische Stadt und Zentrum des industrialisierten Nordböhmens. Die Stadt war auch eine Hochburg der deutschen Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung in der Habsburgermonarchie. 1869 wurde hier ein Allgemeine Arbeiterverband mit sozialdemokratischem Programm gegründet.


Gedenkttafel (auf tschechisch und ungarisch) an seiner ehemaligen Schule für den 1944 auf einem Todesmarsch ungarischer Zwangsarbeiter nahe der österreichischen Grenze ermordeten ungarisch-jüdischen Schriftsteller Miklós Radnóti (Miklós Glatter), der hier 1927/28 die Textilindustrieschule besuch hatte.


Das Denkmal für die Opfer des Kommunismus (Památník obětem komunismu) wurde 2001 errichtet. Es besteht aus einem schwarzen Stein, der an beiden Seiten spiegelt. Die Inschrift ist spiegelverkehrt angebracht und erst im Spiegelbild zu lesen.



Das Schloss Liberec wurde zwischen 1585 und 1587 als Adelsresidenz errichtet und erhielt sein heutiges Aussehen in Umbauten der Jahre 1785/86 und 1852 bis 1854. Ab 1850 saß in einem Teil der Anlage das Amtsgericht. Nach der Bodenreform zulasten der adeligen Grossgrundbesitzer ging das Schloss in Staatsbesitz über, seit der Nachkriegszeit wurde es von einer Glasexport-Firma genutzt, die hier bis zu ihrem Konkurs 2001 ein Museum hatte.


Das Krematorium wurde zwischen 1915 und 1917 errichtet und war das erste Krematorium in der Habsburgermonarchie. Ein österreichischer Verein der Freunde der Feuerbestattung −– „Die Flamme" war bereits 1885 gegründet worden. Anträge auf Errichtung von Krematorien wurden von den Behörden aber aus katholisch grundierten religiösen Gründen abgelehnt. 1912 wurde die Genehmigung schließlich vor dem Verwaltungsgerichtshof erstritten und mit dem Bau in Reichenberg begonnen. Die erste Feuerbestattung fand am 31. Oktober 1918 statt, als die Habsburgermonarchie bereits zusammengebrochen war.

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