Mittwoch, 14. Januar 2009
...der Rest ist Österreich
Helmut Konrad / Wolfgang Maderthaner (Hg.)
... der Rest ist Österreich
Das Werden der Ersten Republik
2 Bde.
Wien 2008
(Carl Gerold's Sohn Verlagsbuchhandlung)
392 S. + 304 S.
4 historische Karten
Ein neues Standardwerk über die ersten Jahre der Ersten Republik. Dank viel Freizeit rund um den Jahreswechsel war es mir glücklicherweise möglich, den zweibändigen Sammelband in verhältnismäßig kurzer Zeit zu lesen. Ein Genuß. Es beeindruckt auf den ersten Augenschein vor allem der Umfang. Bei der Lektüre fesselt dann der Inhalt - neben dem Text (Geschichtswissenschaft at its best) die gut ausgewählten und geschmackvoll präsentierten Photographien, die Karten sind eine nette Beilage.
Der erste Band beschäftigt sich mit dem Ende des Krieges, den neuen Staatsgrenzen und der neuen Politik in der turbulenten Anfangszeit der Republik. Der zweite Band ist der ökonomischen sowie der kulturellen Redimensionierung gewidmet.
Die Herausgeber Konrad und Maderthaner wollen mit ihrem Sammelband die "konstitutive Ambivalenz eines jungen Staates" ins Blickfeld rücken, die Erste Republik nicht "fast nur als Negativfolie zur Geschichte der Zweiten Republik" sehen. Nicht aufgrund der, in ihrer Massivität erdrückenden, Furchtbarkeit der Nazizeit den Blick auf die Bedeutung der Rolle des Ersten Weltkriegs und seiner Folgejahre als "Richtungsweisung für die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts" verlieren. Die Erste Republik hatte, wie sie schreiben, "ihre großen Probleme, von den Grenzziehungen über die Wirtschaftslage bis hin zur Militarisierung der Gesellschaft. Sie hatte aber auch ihre Meriten: die Verfassung, den Sozialstaat sowie wissenschaftliche und künstlerische Leistungen von Weltgeltung."
Für mich ist das größte Faszinosum der vergleichsweise wenigen Jahre von 1918/19 bis 1933/34 das hochaktive politische Leben dieser Zeit. Es war von derart großen Umwälzungen der politischen Rahmenbedingungen und persönlichen Lebensumstände der Menschen geprägt, wie wir sie heute nur schwer erfassen können. Das Hineinfallenlassen in Artikel, Bücher, Broschüren, Zeitungen, Protokolle der Zeit vermittelt immer wieder ein Bild von gleichzeitiger Nähe und Ferne - Vertrautheit der Orte, Umstände oder Themen bei völlig anderer Art von Lösungsperspektiven und Herangehensweisen. Dazu kommt die außerordentliche Suggestivkraft, die viele zeitgenössische austromarxistische Texte bei mir erzeugen.
K. hat mich unlängst gefragt, ob ich ein Lieblingsbuch habe - und ohne viel nachzudenken hab' ich Die österreichische Revolution von Otto Bauer (1923) genannt. Das kommt nicht von ungefähr.
Im ersten Band widmen sich zunächst zwei Beiträge von Manfried Rauchensteiner und Lutz Musner der Erfahrung des Weltkriegs. Rauchensteiner erzählt militärgeschichtlich, angereichert um die Eindrücke "einfacher" Soldaten, aber dennoch im wesentlichen aus der Perspektive der Kriegsführung ("Der Matrosenaufstand ließ sich niederschlagen; die Rädelsführer wurden erschossen."). Musner nähert sich dem Geschehen eher kulturell und zeigt, wie der Krieg "ein schützendes Siegel der Moderne aufgebrochen und so Gewalt- und Zerstörungslogiken freigesetzt hat, wie sie bis dahin auf den europäischen Kriegsschauplätzen unbekannt gewesen waren." Notabene auf den europäischen, die Völker der "Kolonien" hatte diese Seite der modernen Menschenverachtung bereits kennengelernt. Jedenfalls war dies die Voraussetzung für die bereits angesprochene Militarisierung von Gesellschaft und Politik in der Ersten Republik.
Neben Wolfgang Maderthaners essayistischer Zeichnung der "österreichischen Revolution" habe ich mit großem Interesse Ernst Hanischs Artikel über Otto Bauers Zeit als Außenminister 1918/19 gelesen. Wohl derjenige Aspekt seines politischen Wirkens, mit dem ich mich bis jetzt am wenigsten auseinander gesetzt habe. Ich kenn sonst niemand aus dem katholischen Eck, die/der wie Hanisch pointiert, durchaus kantig und kritisch, aber immer kenntnis- und faktenreich über Bauer schreibt. Das hat mir schon an dessen vor Jahrzehnten erschienenem Beitrag über Otto Bauer als Historiker gefallen.
Unbekannt waren mir bisher die Details der Vorarlberger Anschlußbewegung an die Schweiz und deren antisemitische Komponente zur angestrebten Trennung vom "Wiener Judenstaat". Hochinteressant dabei auch der "Seitenwechsel" Liechtensteins. War es zuvor wirtschaftlich in Österreich-Ungarn integriert, das auch seine diplomatische Vertretung über hatte, übernahm diese wie die meisten wirtschaftlichen Belange (Post, Zoll, Währung) dann die Schweiz.
Einer der Schlüssel zum Verständnis der Wirtschaftspolitik der Zeit ist die Erfahrung der Inflation. Oft genug gelesen und gehört und auch für sehr plausibel gehalten. Aber dennoch stockt man doch, wenn man sich die konkreten Auswirkungen auf die, auf einen Menschen vorstellt, wenn Wirtschaftshistoriker Fritz Weber im zweiten Band referiert: "Die deutsche Reichsmark fiel auf ein Billionstel ihres Vorkriegswertes, der deutsche Rubel auf ein 15-Milliardstel, die polnische Mark auf ein 800-Tausendstel, die ungarische Krone auf ein Viertausendstel. Der Wert der österreichischen Krone betrug am Ende der Inflationsperiode nur noch ein 14.400stel des Goldwertes."
Oder wenn Herbert Matis schreibt, "Insgesamt erfuhr die Masse der Bevölkerung durch den Krieg einen durchschnittlichen Realeinkommensverlust von rund 50 Prozent." Sehr spannend in diesem Zusammenhang Peter Bergers Parallelisierung des "plötzlichen Auftauchens der russischen Oligarchen nach 1989 ... zum Aufstieg einer Schicht von Nouveaux riches am Beginn der Ersten Republik".
Um auf alle Beiträge der beiden Bände eingehen zu können, müßte ich fast einen eigenen Blog aufmachen. Das mache ich nicht. Daher nur noch einige Schlaglichter. Deborah Holmes schreibt über Reformpädagogik, Johann Brazda und Robert Schediwy über die Konsumgenossenschaften, sehr interessant. Dazu die zu erwartenden "Klassiker" wie Roman Horak über die Entwicklung des Fußballs zum Publikums- und Massensport (die in die ersten Jahre der Republik fällt) sowie die damit einhergehende "Massen-Gewalt", Alfred J. Noll über die Verfassung, Gerhard Botz über politische Gewalt, Gabriella Hauch über den Genderaspekt oder Rolf Steininger über Südtirol.
Karin Maria Schmidlechner verweist in ihrem Beitrag über Die neue Frau? auf die Argumentation von Maureen Healy, daß die Kriegsjahre mindestens genauso gut als Anfangsjahre der nachfolgenden Epoche zu behandeln sind wie als Endzeit der Monarchie, als die sie üblicherweise betrachtet werden. Alte Hierarchien gerieten allerorts in "Unordnung". Das ist der Ansatz, von dem aus betrachtet die Geschichte von Erstem Weltkrieg und Erster Republik ihren Reiz gewinnt.
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