Freitag, 30. Dezember 2011

Der große Illusionist




Ernst Hanisch
Der große Illusionist
Otto Bauer (1881−1938)
Wien/Köln/Weimar 2011
(Böhlau Verlag)
478 S.






Das Fehlen einer wissenschaftlichen Biographie Otto Bauers war bisher ein großes Defizit. Der Historiker Ernst Hanisch hat sich daran gemacht, diese Lücke zu schließen. Spannend macht das Werk, daß Ernst Hanisch schon in bisherigen Veröffentlichungen zur Person Bauers einen streitbaren, kritischen, aber Scheuklappen vermeidenen Blick zeigte. Hanisch ist frei von jedem Verdacht einer lagergeschichtlich orientierten Hagiographie: „Ich war nie Sozialist. Ich komme herkunftsmäßig aus einem ,liberalen Katholizismus, mit einem stark sozialen Anspruch“ definiert er eingangs seine Position.

Hanischs zentrale Kategorie zum Verständnis Otto Bauers ist eine religiöse Schablone: Bauer habe „eine Glaubensentscheidung für den Sozialismus“ getroffen, erlebte in der Pubertät „eine Bekehrung zum Marxismus“ und „dieser Glaube war ernst und ernsthaft: ein Zustand der Ergriffenheit, ein ,heiliges, letztgültiges Ziel, das sein ganzes Leben prägte“, dieser „hartgehämmerte Glauben an den Sozialismus“. Hanisch argumentiert dies nicht. Die Belegstellen, die er zwischendurch einstreut, überzeugen wenig. Daß Bauer „selbst von der religiösen Dimension des Glaubens an den Sozialismus“ gesprochen habe, wenn er 1922 in einem Brief an Friedrich Adler in einer persönlichen Bemerkung über die politische Wandlung des gemeinsamen Freunds Rudolf Hilferdings schreibt „Seitdem er aber den Glauben verloren hat (Hervorhebung E. H.), hat er sich in eine Richtung verändert, die ich gerade bei ihm nie für möglich gehalten hätte. Es ist eine Erfahrung, die für mich ein Stück Glaubens an die Menschen zerstört.“ scheint mir ein zu kühner Schluß zu sein.
Dies führt zu Fehl-Analogien. So ist Otto Bauers Konzeption eines integralen Sozialismus, sind seine händeringenden Versuche, in der Verzweiflung der Alternative Hitler oder Stalin Ende der dreißiger Jahre, zu kritisieren. Hanisch verfehlt aber den politischen Punkt, wenn er meint „Der Wunsch des Gläubigen, einen konkreten Ort zu finden, wo der Sozialismus (wenn auch unter großen Schmerzen und Opfern) aufgebaut werde, war bei Bauer stärker als das kritische Potential des unabhängigen Intellektuellen.“ Hanisch verrennt sich in oftmaliger Wiederholung der These der religiösen Dimension, ohne diese These wenigstens einmal ausführlich darzulegen. Er verwischt politische Überzeugungen und Religion als wäre es einerlei.

Ein großes Versäumnis ist, daß Hanisch eine weitere zentrale Begrifflichkeit seines Buchs nicht erklärt, obwohl sie sich sogar im Titel des Buchs befindet, nämlich dies des Illusionisten. Hanisch bezieht sich einmal, im Verhältnis und Verständnis von Marxismus und Wissenschaft, auf François Furet und dessen Kommunismus-Bilanz Das Ende der Illusion, wo dieser schreibt, der Marxismus schien „das Geheimnis zu eröffnen, das den Menschen befähigt, die göttliche Rolle zu übernehmen und damit die Nachfolge Gottes anzutreten.“ Aus dieser religiös grundierten Illusion rührt wohl Hanischs Begriff des Illusionisten für Otto Bauer. Sonst gibt es nur wenige Hinweise, was Hanisch meint. Als „großer Illusionist“ habe sich Otto Bauer in der Hoffnung, die er rund um das Linzer Parteiprogramm 1926 geweckt habe, „offenbart“, schreibt er, da ein Parteiprogramm politisch-praktisch die ihm zugedachten Funktionen nicht erfüllen könne.
Ein Defizit ist die fehlende Definition und Argumentation des Begriffs Illusionist, da mit diesem zwei Konnotationen mitschwingen: Die desjenigen, der selbst einer Illusion anhängt, sowie die desjenigen, der anderen eine Illusion vorgaukelt. Für beide Varianten bietet Hanisch mögliche Anker in seinem Buch: Einerseits der vom Sozialismus überzeugte Bauer („Die tiefste emotionale Grundlage für diesen Glauben findet sich in der Sehnsucht nach Gerechtigkeit: einer ehrenhaften, noblen Sehnsucht. Dass sich dieser Glaube im Laufe des 20. Jahrhunderts als Illusion herausstellte, war die Tragik des Lebens von Otto Bauer.“ ) und andererseits der versagende Politiker. Diese Unbestimmtheit hätte Hanisch nicht im Raum stehen lassen sollen.

Es gibt im Buch auch kein resumierendes Schlußkapitel, in dem Hanisch diese Fragen aufnehmen könnte, sondern lediglich einen Schlußabsatz, in dem Hanisch seine Grundthesen rekapituliert. Das ist analytisch zu wenig, auch wenn Hanisch in diesem Absatz sein Resumé von Otto Bauers Biographie bei aller Kritik prägnant formuliert: „ein gescheiterter Politiker in einigen zentralen Bereichen, aber ein Historiker und Sozialwissenschaftler von Format. Trotz vieler Irrtümer hielt er an der Humanität der Menschen fest; kein Zyniker der Macht, persönlich bescheiden, glaubt er an die große Mission des Sozialismus − das war seine große Illusion.“ Zur Argumentation hätte ich gerne mehr gelesen.

Für Hanisch bleibt Bauer aber „der größte Politiker-Intellektuelle in Österreich im 20. Jahrhundert“. Damit hat er ohne Zweifel recht. Hier kommt bei Hanisch aber auch der Vorwurf in der Charakterisierung als Hamlet hinzu: „der Politiker in Bauer drängte zu Entscheidungen, der Intellektuelle dachte in Alternativen, wurzelte wohl auch in seiner Persönlichkeitsstruktur, auf Vermittlung ausgerichtet und gleichzeitig voller Scheu, eindeutige Entschlüsse zu treffen.“ Ernst Hanisch würdigt den politischen Schriftsteller und analytischen Historiker Bauer und kritisiert den Politiker Bauer hart.
Letzteres ist eine streitbare, aber vertretbare Position, wenngleich in der langen politischen Karriere Bauers auch Positives zu finden gewesen wäre. Unter Rückgriff auf Ludwig Leser macht Ernst Hanisch als zentrale Problematik des Politikers Otto Bauer nicht den Widerspruch von Theorie und Praxis bzw. pragmatischer Politik und radikaler Sprache aus, wie dies Norbert Leser tut, sondern eine Politik von einerseits/andererseits, „die Differenz zwischen dem scharfblickenden Analytiker und dem oft handlungsunfähigen Praktiker der Politik“.

Auch mich faszinieren die historisch-politischen Schriften Otto Bauers jedes Mal aufs neue. Ich habe die Lebensaufgabe der 9.000 Seiten der Werkausgabe bei weitem nicht alle durchgearbeitet, aber doch einiges studiert und mit hohem Genuß gelesen. Hanisch teilt meine Faszination, wenn er über Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Otto Bauers mit Mitte zwanzig geschriebenem Erstlingsbuch aus dem Jahr 1907, schreibt: „Bereits mit dem ersten Buch trat er fertig vor das Publikum. Das marxistische Grundgerüst, angereichert durch die zeitgenössische ,bürgerliche Wissenschaft (hier durch Kant), eine Methode, die leicht zur Rechthaberei verführte, ein prinzipiell historischer Zugang zu den Problemen (dabei gelingen ihm packende, holzschnittartige historische Skizzen), die Verwendung ausführlicher Statistiken als empirische Basis und der Mut, Kernprobleme seiner Zeit und der Gesellschaft direkt anzugehen (in diesem Fall das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie).“
Damit bringt Hanisch die Meisterschaft Otto Bauers in wenigen Worten präzise auf den Punkt. Auch sein Einwand, „die marxistische Vorgabe zwang Otto Bauer gleichzeitig in ein deterministisches Gefängnis; immer wieder verführte sie ihn zu Voraussagen aufgrund der vermeintlich ehernen historischen Gesetze, die häufig von der Realität falsifiziert wurden“, stimmt zwar für den Historiker, es gibt bis heute aber auch gescheite politische Autorinnen und Autoren, die in ihren Büchern ebenso oft falsch liegen, wenn man sie im zeitlichen Abstand liest.
Dies gilt auch für Bauers zweites großes Buch Die österreichische Revolution, seine Geschichte der Entstehung der Republik aus dem Jahr 1923. „Bauer schrieb eine Gesellschaftsgeschichte, eine transnationale Geschichte, bevor es die Namen dieser historischen Paradigmen gab.“ hält der Geschichtswissenschaftler Hanisch fest.

Hanisch bringt Informationen über den privaten Menschen Otto Bauer in bisher ungekannter Fülle und korrigiert Details und Legenden.
Über das Seelenleben Otto Bauers nach Gefangennahme an der russischen Front im Ersten Weltkrieg gibt es wenig Quellen. Diese Lücke füllt Hanisch durch psychologische Mutmaßungen: „Bauer war bedrückt. Hatte er durch denn ,übereilten Entschluß zum Sturmeine Katastrophe ausgelöst? ... Wie läßt sich diese übergroße militärische Schneidigkeit Bauers erklären? Den politischen Hintergrund habe ich bereits beschrieben. Hinzu treten wohl auch persönliche Gründe, die des Juden und des Intellektuellen. Als Jude war er ständig mit dem Vorwurf der Feigheit und Unmännlichkeit konfrontiert, als Intellektueller mit dem Vorwurf der Kopflastigkeit und der Stubenhockerei. Seine forcierte Tapferkeit könnte so eine Überreaktion auf diese latenten Vorwürfe gewesen sein.“ Könnte. Hanisch formuliert zu recht im Konjunktiv, denn auch wenn seine Annahmen plausibel und möglich sind, bleiben sie doch eine Vermutung.

Ein schlimmes Mißgeschick (von Lektorat und Verlag?) ist das Fehlen des Anmerkungsapparats. So kann man nur mutmaßen, ob Hanisch in den jeweiligen Fußnoten eine Literaturangabe machen oder einen Gedanken formulieren wollte.

Ernst Hanisch hat mit seiner Biographie einen Meilenstein gesetzt, um den man künftig in Beschäftigung mit der Person Otto Bauer nicht herumkommen wird. Er füllt damit eine große Lücke. Leider trüben aber unverständliche Unklarheiten und nicht argumentierte Thesen diese Leistung.



Eine kleine Auswahl von Otto Bauer aus meiner Bibliothek:

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