Samstag, 10. April 2021
Lustenau
10.4.2021
In der Vorarlberger Marktgemeinde Lustenau wurde ein Fußballspiel besucht. 23.300 Menschen leben in der größten Gemeinde Österreichs, die keine Stadt ist.
Lustenau wurde im Jahr 887 in einer kaiserlichen Urkunde erstmals schriftlich erwähnt, und zwar als Reichshof. Der Reichshof war zwar im Lauf der Jahrhunderte an Adelige verpfändet, die über die hier lebenden Menschen damit herrschten, aber formal direkt der Herrschaft des Reichs unterstellt, wodurch den Einwohnerinnen und Einwohnern auch nicht mehr als übliche Steuern auferlegt werden durften. 1395 bis 1759 beherrschten die Grafen von Hohenems Lustenau. Nach dem Aussterben derer männlichen Linie gliederte die Habsburgermonarchie Hohenems in ihr Staatsgebiet ein und tat dies auch mit Lustenau, obwohl dort im Unterschied zu Hohenems die Gräfin Maria Rebekka von Hohenems auch als Frau herrschaftsberechtigt gewesen wäre. Erst nach einem Gerichtsverfahren beim Reichshofrat wurde 1790 mit einem Staatsvertrag zwischen Lustenau und Österreich die Selbständigkeit des Reichshofs Lustenau wiederhergestellt. Nachdem im Zuge der napoleonischen Kriege Tirol und Vorarlberg von Bayern in Besitz genommen worden waren, wurde 1806 auch das selbständige Lustenau von Bayern besetzt und eingegliedert. Als Vorarlberg 1814 an die Habsburgermonarchie zurückfiel, entwickelte sich um die Frage der Zugehörigkeit Lustenaus zu Vorarlberg ein Konflikt zwischen Bayern und Österreich. Auf Bitten der Lustenauer Gemeinde besetzte österreichisches Militär den Ort, die Gerichtsbarkeit blieb aber bayrisch. Erst im Jahr 1830 wurde Lustenau endgültig österreichisches Staatsgebiet. Die Gedenksäule beim Rathaus erinnert mit seiner Form einer frühneuzeitlichen Wappensäule an die reichshöfische Zeit von Lustenau.
Der Kirchplatz wurde 1998 für umgerechnet 1,8 Mio. € unter der damals seit Jahrzehnten Lustenau regierenden FPÖ (1960 bis 2010) in der Parteifarbe zum Blauen Platz umgestaltet. Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung dagegen war und sogar in einer Volksabstimmung eine Mehrheit dagegen stimmte, wurde das so gebaut. Bereits 2001 war der mit einem blauen Kunststoffgemisch versehene Straßenbelag so lädiert, dass er für eine weitere Viertelmillion € erstmals saniert werden musste. Auch zwanzig Jahre später erkennt man blaue Verfallserscheinungen.
Der 1987 errichtete Reichshofsaal ist mit bis zu 500 Personen Fassungsvermögen der größte Veranstaltungsraum Lustenaus.
Das Kriegerdenkmal für die im Ersten Weltkrieg als Soldaten zum Töten in den Krieg geschickten und dort getöteten Lustenauer Männer wurde 1932 errichtet. Die von Albert Bechtold geschaffene Statue Trauernde Frau ist eines der wenigen Kriegerdenkmäler in Vorarlberg, die nicht das angeblich Heldenhafte des Tötens und Getötetwerdens sondern das Leiden des Kriegs in den Vordergrund stellen. 1953 wurden für die nächsten Toten des nächstens Kriegs weitere Namenstafeln für die aus Lustenau von den Nazis in den Tod Geschickten des Zweiten Weltkriegs ergänzt.
Am 75. Jahrestag des Novemberpogroms 1938 am 9. November 2013 enthüllte die Gemeinde Lustenau neben dem Kriegerdenkmal ein Denkmal „Zum Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur“. Das Werk des Lustenauer Bildhauer Udo Rabensteiner zeigt eine gebrochene Steinsäule als Metapher für die Gewalt. Auf den Steinblöcken stehen die Namen der bislang bekannten Lustenauer NS-Opfer. Es sind Menschen, die politischen Widerstand leisteten, Euthanasieopfer, aber auch für ihre Verweigerung des Kriegsdiensts für die Nazis erschossene Deserteure. Gesichert sind 28 Todesopfer bekannt. 95 Lustenauerinnen und Lustenauer wurden von den Nazis 1938 bis 1945 in Gestapo-Haft genommen oder in ein KZ gesperrt.
Die 1827 bis 1832 dreischiffig erbaute, in den 1870er Jahren zu einer Hallenkirche umgebaute und in den 1950er Jahren vergrößerte römisch-katholische Pfarrkirche St. Peter und Paul.
Das Austria Café des SC Austria Lustenau ist im ältesten Haus am Blauen Platz untergebracht.
Straßenszenen
Das Ammannhaus ließ sich in den 1650er Jahren der damalige Hofammann Hans Hagen für seinen jüngsten Sohn Leopold Hagen auf bereits bestehenden Grundmauern eines bis ins Jahr 1452 zurückgehenden älteren Hauses bauen. Bis 1819 war das Haus im Besitz der Ammannfamilien Hagen und Hollenstein, diente aber entgegen seiner landläufigen Bezeichnung als Ammannhaus nicht aus Amtshaus von Lustenau. Der Ammann oder Amtmann war in Vorarlberg bis Anfang des 19.Jh. der oberste Verwalter eines Verwaltungs- und Gerichtsbezirkes (Stand) und hier eben des Reichshofs Lustenau. Das Haus ist eines der ältesten noch erhaltenen Bauwerke in Lustenau. In den letzten Jahrzehnten lebte hier ein 2009 verstorbener Hundemetzger, der u.a. Schweine, aber auch Hunde und Katzen, schlachtete und daraus Gulasch und Würstel produzierte. Beliebt soll sein Hundeschmalz gewesen sein.
Das ehemalige Fabrikgelände Hofer, Bösch und Cie. Die Textilproduktion prägte über Jahrhunderte das Arbeitsleben in Vorarlberg. Die Stickerei kam, wie auch die sonstige Baumwollverarbeitung, um das Jahr 1750 über die Schweiz nach Vorarlberg. 1840 wurde in der Schweiz die erste serienreife Handstickmaschine entwickelt, die 40 Handstickerinnen ersetzte. 1873 wurden allein in Lustenau 100 Kettenstich-Stickmaschinen betrieben. Die Stickerei wurde für Lustenau zum wichtigsten Wirtschaftszweig. Die 1875 gegründete Firm Hofer, Bösch und Cie. ließ neben dem 1908 an der Rheinstraße errichteten großen Geschäftshaus 1912 ein weiteres großes Fabrikgebäude sowie um 1907 ein Mädchenwohnheim errichten. In der Vorarlberger Textilindustrie arbeiteten meist über 50% Frauen. Sie wurden von den Fabriksherrern gerne beschäftigt, da man ihnen für ihre Arbeit wesentlich weniger als Männern zahlte. 1860 lag etwa der Jahresverdienst von Frauen in der Baumwollindustrie bei 6.100 Kreuzern (Männer 10.300) und damit unter dem Existenzminimum. Frauen mussten sich neben ihrem im 19.Jh. 12- bis 14-stündigen Arbeitstag noch um Haushalt und Kinder kümmern. In der Vorarlberger Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung kämpften Frauen ebenso um ihre Rechte, wenngleich die konservative und religiöse politische Dominanz neben dem gesetzlichen Verbot der Mitgliedschaft in politischen Vereinen für Frauen in der Habsburgermonarchie politische Betätigung erschwerte (erst mit dem Sturz des Kaisers und der Gründung der Republik 1918 erhielten Frauen politische Rechte). Eine eigene Vorarlberger sozialdemokratische Frauenorganisation wurde 1907 gegründet. An Arbeitskämpfen wie den Streiks zur Durchsetzung des Zehn-Stunden-Arbeitstages 1907/08 waren Frauen oft beteiligt.
Die Jahnturnhalle wurde 1901 errichtet und ist Sitz der aus deutschnationaler Tradition kommenden Turnerschaft Jahn Lustenau. Bereits 1931 wurde in Lustenau eine Ortsgruppe der NSDAP gegründet, die in der Anfangszeit zu einem großen Teil aus den Mitgliedern des damaligen Turnvereins 1880 Lustenau bestand. Die Jahn-Turnhalle wurde zum Hauptveranstaltungsort der Versammlungen der Nazis. Nach dem Verbot der NSDAP in Österreich durch die austrofaschistische Diktatur 1933 verübten die Nazis Sprengstoffanschläge und verfolgten eine Politik des Terrorismus. Als Nazi-Stützpunkt wurde die Turnhalle mehrmals von der Polizei gestürmt und kurzfristig auch vom Bundesheer besetzt. 1938 drehten sich die Machtverhältnisse um und die Nazis konnten ihre Herrschaft des Mordens und des Kriegs beginnen. Nach der Befreiung 1945 wurden die deutschnationalen Turnerbünde aufgrund ihrer Verstrickung in die Nazi-Verbrechen aufgelöst, konnten sich einige Jahre später aber neu gründen. So entstand hier 1953 die Turnerschaft Jahn Lustenau als Nachfolger des Turnvereins 1880 Lustenau.
Die Neue Widnauer Brücke aus dem Jahr 1914. Die in Lustenau auch „Wiesenrainbrücke“ genannte Stahlbrücke ersetzte eine ältere Brücke über den Rhein etwas weiter südlich und schuf einen öffentlichen Grenzübergang an dieser Stelle zwischen der Schweiz und Österreich. Die ältere Brücke diente nur dem Grenzübertritt zur landwirtschaftlichen Bewirtschaftung der Flächen, die als Relikt des Reichshofs in Schweizer Besitz sind. Das Gebiet der heute Schweizer Gemeinden Widnau, Schmitter und Au auf der linken Seite des Rheins wurde 1593 vom Reichshof Lustenau abgetrennt, wobei ihnen aufgrund der ungleichen Flächenverteilung Grundbesitz auf der rechtsrheinischen Seite zugesprochen wurde, das sogenannte Schweizer Ried.
Alte österreichische Grenz- und Zollgebäude an der Brücke. Im 19. bis ins 20.Jh. hatten hinein viele Lustenauerinnen und Lustenauer die Nähe zur Schweiz zum florierenden Geschäft des Schmuggels genutzt.
Der Rhein. 1892 wurde zwischen der Schweiz und Österreich-Ungarn ein Staatsvertrag zur Regulierung des Rhein-Verlaufs abgeschlossen, der hier die Staatsgrenze bildet. In den folgenden Jahrzehnten wurde der Flusslauf begradigt und verbaut. Verheerende Hochwasser, die bis dahin Lustenau regelmäßig überschwemmt hatten, wurden dadurch verhindert. Zum Materialtransport wurde eine Schmalspur-Eisenbahnstrecke der IRR, der Internationalen Rheinbauregulierung errichtet. Nach der Auflassung des Steinbruchs Kadelberg in Koblach wurde das sogenannte Rheinbähnle 2007 eingestellt. Seither werden die Geleise auf dem Rheindamm von der Museumsbahn des Vereins RheinSchauen befahren. Leider war an diesem Tag noch nicht Saison.
Dieses Gebäude war die Lustenauer Remise der von 1902 bis 1938 zwischen Dornbirn und Lustenau verkehrenden Straßenbahnlinie „Elektrische Bahn Dornbirn-Lustenau“. Die Errichtung der Straßenbahn erfolgte in einer Zeit starken Wirtschaftswachstums. 1938 wurde sie eingestellt, da sie sich finanziell nicht mehr rentierte.
Ein Beispiel der historisch gewachsenen komplexen Grenzsituation ist das Gasthaus am Rohr. Es liegt zwar auf der österreichischen Seite auf Gebiet von Lustenau, das Land gehört aber der Schweizer Gemeinde Widnau.
Das im Zuge der Rheinregulierung vom Flusslauf abgetrennte Gewässer des Alten Rhein ist ein Naherholungsgebiet im Süden Lustenaus.
Am Alten Rhein befindet sich auch das Rohr. Es durchschneidet den Alten Rhein und ist Ausgangspunkt des Entwässerungskanals Neuner Kanal. In der Mitte des Rohrs ist die Grenze zwischen Österreich und der Schweiz. Während der NS-Herrschaft stellte diese Stelle für viele von den Nazis Verfolgte, Jüdinnen und Juden sowie aus politischen Gründen verfolgte Menschen, einen Fluchtweg in die sichere Schweiz dar. Am alten Grenzgitter auf dem „Rohr“ wurde 2009 von der UNESCO eine Gedenktafel angebracht, die an das Schicksal dieser Menschen erinnert. Für den Lustenauer Wehrmachtsdeserteur Josef Hagen, der vor dem Kriegseinsatz für die Nazis flüchten wolle, endete die Flucht durch das „Rohr“ 1944 tödlich. Ein Lustenauer „Hilfszöllner“ schoss auf den Flüchtenden und verletzte ihn tödlich. Er starb im Krankenhaus im schweizerischen Altstätten an den Verletzungen. Rund 2.000 – meist jüdische – Flüchtlinge wurden durch den St. Galler Polizeikommandanten Paul Grüninger 1938/1939 gerettet. Er schickte diese Menschen entgegen seinen Befehlen aus der Schweiz nicht ins Deutsche Reich zurück und rettete sie damit vor der späteren Ermordung. Ab Oktober 1938 anerkannte die Schweiz vor den Nazis fliehende Jüdinnen und Juden nicht mehr als Flüchtlinge. Paul Grüninger wurde 1939 für die Unterstützung der Flüchtlinge suspendiert, sein Pensionsanspruch wurde gestrichen und er wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Grüninger galt als Verbrecher, fand in seinen restlichen drei Lebensjahrzehnten nie wieder eine feste Anstellung und starb 1972 verarmt. Erst in den 1990er Jahren wurde er rehabilitiert und seine Leistung als Flüchtlingshelfer und Lebensretter anerkannt. In St. Gallen ist das Stadion des SC Brühl, wo er als Fußballer 1914/15 Schweizer Meister und Vereinspräsident war, nach ihm benannt.
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