Freitag, 7. Oktober 2011

Blätter, August 2011




Blätter für deutsche und internationale Politik
Heft 8/2011
128 S.







Ein spannender Text des bekannten Osteuropa-Historiker Karl Schlögel im Heft: Rußlands zweite Modernisierung.
Er analysiert Rußland als „Land ohne Mitte“, mit einem in Moskau zu findenden Lifestyle der Jugend gleich wie in London und 60 Kilometer weiter leere Dörfer mit zusammengebrochener Infrastruktur und Leben wie im 19. Jahrhundert, der „Abwesenheit einer sozialen und kulturellen Mitte, des Moderaten und Durchschnittlichen gegenüber dem Exzessiven, Grenzen- und Maßlosen“. Schlögel beschreibt die Modernisierungswellen des Zarenreichs zwischen 1860 und 1914. Die sowjetische Modernisierungsbilanz des 20. Jahrhunderts sieht er negativ: Sie habe trotz Modernisierungsrhetorik Rückschritte gebracht und mit einer „Entwicklungs-“ oder „Erziehungsdiktatur“ in eine Sackgasse geführt. Das heutige Rußland habe keine „eigene Unternehmenskultur“ entwickelt, denn die privaten Reichtümer wären „nicht durch die Arbeit von Generationen entstanden, sondern über Nacht, durch den Zerfall des Staatsmonopols und den handstreichartigen Zugriff am rechten Ort und zur rechten Zeit“ und ihre Eigentümer.
Es ist eine kapitalistische Ethik, die Schlögel offensichtlich fehlt: „Die Verächtlichkeit, mit der die großen Oligarchen und Bürokraten auf die kleinen und kleinbürgerlichen Mittelständler, die in Rußland Geschäfte machen − auch auf die ausländischen − herabblicken, spricht Bände über die Geisteshaltung der nouveaux riches und einer parasitären Bürokratie. Die Art, wie sie ihr Geld ausgibt, sagt auch etwas darüber aus, wie sie es verdient hat, nämlich leicht, müelos, über Nacht, handstreichartig.“

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