Dienstag, 8. April 2008

Europäische Revolutionen



Eric Hobsbawm
Europäische Revolutionen
(Kindlers Kulturgeschichte des Abendlandes: Bd.XV)
München 1978 (Kindler)
572 S.






Eric Hobsbawms im Original 1962 als The Age of Revolution in Weidenfelds History of Civilisation-Reihe erschienenes Werk ist eine für ein breites Publikum geschriebene Geschichte der Jahre 1780 bis 1848. So ist das Buch auch sehr schön und leicht zu lesen, wobei ja aber Hobsbawm in bester angelsächsischer Tradition ohnehin immer verständlich schreibt.

Im Zentrum steht die These der "Doppelrevolution" (Dual Revolution) von industrieller (britischer) und politischer (französischer) Revolution. Für die damalige Zeit recht ungewöhnlich - jetzt im Vergleich zur deutschsprachigen Historiographie - hat Hobsbawm einen breiten Blickwinkel. Klar ist, daß bei ihm der wirtschaftlichen Entwicklung nicht nur aufgrund des Themas, sondern auch als Erklärungsmuster viel Raum gegeben wird, mehr als der zu recht auf's Wesentliche beschränkten Kriegs- und Diplomatiegeschichte (obwohl die ja gerade in dieser Epoche viel hergibt, etwa in der von Hobsbawm angerissenen Wechselwirkung von Armee und Revolution). Da gibt's was über Ideologiegeschichte, das bürgerliche Individuum, die Künste und Wissenschafen. Am besten ist er aber in den "Standards", die Industrielle Revolution und die beginnende Durchsetzung des Kapitalismus, das Agrarproblem (inkl. die Nachteile der Bauernbefreiung für die Betroffenen) oder die Jahre von den 1820ern bis zum Vorabend von 1848, die er nicht als Zeit der Aufstände, sondern als Zeit der "revolutionären Wellen" beschreibt.

Nennen wir es mal "nicht kohärent" hab' ich gefunden, daß Hobsbawm in der Aufzählung von Beispielen der rasanten wirtschaftlichen und industriellen Dynamik meint "Vom heutigen Standpunkt gesehen, war das alles gewiß noch recht bescheiden, aber mit den früheren Zeiten verglichen - und schließlich verglichen ja die Zeitgenossen ihr Leben mit der Vergangenheit -, überstieg diese Wandlung die wildesten Träume." (S.299f.), zu den Opferzahlen des jakobinischen Terreur (S.123f.) oder der Revolutions- und napoleonischen Kriege aber genau die entgegengesetzte Argumentation verwendet und sie gegenüber z.B. der grausamen Beendigung der Pariser Kommune oder dem 20. Jahrhundert relativiert (S.164f.). Eine Linie, die man vertreten kann, wenn man will, es hätte aber ein bisserl deutlicher argumentiert gehört.

Die Französische Revolution ist ja ein klassisches Beispiel parteiischer Geschichtsschreibung. Hobsbawm macht hier in marxistischer Tradition aus seiner Sympathie für den Jakobinismus, mitsamt Betonung seiner sozialorientierten Wirtschaftspolitik, wenig Hehl, "Für alle war dies eine Zeit, die nicht nach den Maßstäben des menschlichen Alltags zu beurteilen ist, sondern aus der Perspektive eines grauenvollen Terrors. Und das ist wahr. Für den soliden Franzosen aus dem Mittelstand, der hinter diesem Terror stand, war dieser jedoch weder pathologisch noch apokalyptisch, sondern in erster Linie die einzige Methode, sein Land (i.e. die Revolution, gegen den Aufstand fast des ganzen Landes gegen das jakobinische Paris und gegen die militärische Intervention der europäischen Mächte) zu retten. Dies gelang der Jakobinischen Republik in der Tat, und ihre Leistung war übermenschlich." (S.124) Hobsbawm positioniert sich, versucht aber stets, differenziert zu bleiben.

Vieles würde und könnte man heute nicht mehr so schreiben und formulieren wie 1962. Gar nicht würde mehr gehen, daß der Gender-Aspekt einfach praktisch nicht vorkommt, Frauen gibt es nur in Nebensätzen und Randbemerkungen. Notgedrungen zu kurz kommt bei einem Überblickswerk natürlich leider nationale bzw. im europäischen Maßstab regionale Aspekte. Dafür wird trotz des Fokus auf Europa immer wieder auch auf Außereuropäisches verwiesen; aus dem britischen Entstehungszusammenhang verständlich immer mal wieder auf Indien, aber z.B. auch auf Lateinamerika. Und zur Darstellung der Verbreitung der klassischen britischen Ökonomie von Smith und Ricardo auf die frühe Gründung von Ökonomie-Lehrstühlen in Lateinamerika zu verweisen, war schon ein sehr netter Aspekt.

Über diese Epoche gibt's Berge an Literatur. Abseits von Details und Fakten, für den Gesamtzusammenhang, ist Hobsbawms Buch Standardliteratur. Ein wirklich sehr gutes, zeitloses sozialgeschichtliches Werk.

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