Freitag, 11. April 2008

Transit 34



Transit 34
Europäische Revue
Winter 2007/2008
172 S.







Der eine Schwerpunkt des Hefts gilt dem polnischen exkommunistischen katholischen Philosophen Leszek Kołakowski, vom kommunistischen Regime als Dissident aus dem Land vertrieben. Von ihm ist auch ein Artikel aus dem Jahr 1957, Was ist Sozialismus?, abgedruckt, eine beindruckende, prägnante, kraftvolle Anklage des kommunistischen Systems. Die Artikel von Tony Judt und John Gray widmen sich dem Werk, mit dem auch ich den Namen Kołakowski automatisch verbinde, seine in den 70er Jahren erschienenen, in ihrer Breite und Tiefe imposanten Hauptstömungen des Marxismus. Es ist eine Ideengeschichte, wie sie nur von einem Philosophen/einer Philosophin geschrieben werden kann. Ich hab' nur ganz wenig daraus gelesen, und das auch schon vor Jahren. Abgesehen davon, daß mir die harten Bewertungen und Thesen damals nicht gefallen haben, etwas was das Werk aber eigentlich positiv auszeichnet, war mir das zu entkontextualisiert. Da hab' ich wohl einen anderen Zugang, mich interessieren die historischen und sozialen Bedingungen des Gedachten und Geschriebenen und nicht nur dessen reine Substanz. Krzysztof Michalski macht in seinem Beitrag über die Philosophie Kołakowskis deutlich, daß dessen Hauptbeschäftigung seither religiösem Zeugs galt und gilt, die Beschäftigung mit dem Sozialismus hat er nach den drei dicken Bänden de facto abgeschlossen.

Aber zu Judt und Gray: Sie orientieren sich in ihren Artikeln eng an Kołakowskis Position, daß Marx' Philosophie "einige praktische Konsequenzen nach sich zog, die unbeschreibliches Leid und Elend über die Menschheit bringen sollten: Privateigentum und Markt sollten abgeschafft und durch universale, alles umfassende Planung ersetzt werden - ein völlig unmögliches Projekt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bemerkten namentlich Anarchisten, dass die solchermaßen verstandene marxistische Doktrin eine gute Blaupause für die Umformung der menschlichen Gesellschaft in ein gigantisches Konzentrationslager war. Natürlich lag dies nicht in Marxens Absicht, aber es war die unausweichliche Auswirkung der wohlwollenden gloriosen und endgültigen Utopie, die er ersann." (Kołakowski im neuen Vorwort der englischen Neuausgabe der Hauptströmungen, zit. nach Gray, S.47).
Tony Judt hat recht, die zynische Anwendung der Dialektik zwecks Verdrehung der Geister und Tortur der Leiber entging den westlichen Marxismusexegeten für gewöhnlich, die sich lieber in die Kontemplation vergangener Ideale oder künftiger Aussichten versenkten und von unbequemen Nachrichten aus der sowjetischen Gegenwart, besonders wenn sie von Opfern oder Zeugen stammten, unbewegt blieben." Und auch wenn er konzediert, daß man "Karl Marx, einen deutschen Autor, der im viktorianischen London lebte, wohl kaum in irgendeiner gedanklich nachvollziehbaren Weise für die russische oder chinesische Geschichte des 20. Jahrhunderts verantwortlich machen" (Judt), klebt er an dem Schluß, es wäre "die leninistische Version des Marxismus ... wenngleich nicht die einzig mögliche, ziemlich plausibel" (Kołakowski) gewesen.

Kołakowski rezipiert Marx als Philosoph, nicht als Ökonom, Historiker, Soziologe, gerade letztere beiden Eigenschaften sind aber seine größten Stärken. Also ich bin von Marx' Bürgerkrieg in Frankreich und dem 18. Brumaire des Louis Bonaparte jedesmal wieder ganz schwer beeindruckt. V.a. Judt solidarisiert sich cum ira et studio mit Kołakowski so überschäumend, daß er in seiner berechtigten Verurteilung der kommunistischen Gewaltregimes und Gewaltideologie, nicht zur Kenntnis nimmt, wie anregend es sein kann, Marx als produktive intellektuelle Fundgrube und nicht als Prophet und Überbauer eines Gewaltregimes zu sehen. Als Steinbruch, nicht als Religion ist Marx ergiebig - und ist historisch-kritisch zu lesen, wie alles und jeder, denn natürlich steht auch viel Blödsinn drinnen und natürlich ist Marx nicht als Πολιτεία oder Νόμοι zu sehen (und ich mag Platon! - historisch-kritisch gelesen). Aber das kommt davon, wenn man Marx als idealistischen deutschen Philosophen in christlich-mystischer Tradition nimmt. Ein seltsamer Artikel Judts, der wirkt als wäre er in der Hochphase des Kalten Kriegs von einem Propagandisten und nicht heute von einem eigentlich gescheiten Historiker geschrieben worden.

Der zweite Schwerpunkt der Ausgabe gilt Anna Politkowskaja, einer bewundernswerten, heldinnenhaften russischen Journalistin, die die Verbrechen des Tschetschenienkriegs aufdeckte und anprangerte und dafür ermordet wurde.

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