Freitag, 25. Juni 2010

Widerspruch 57



Widerspruch 57
Beiträge zu sozialistischer Politik
29. Jg. / 2. Halbjahr 2009
208 S.







In einigen interessanten Beiträgen geht es um staatliches Handeln in der Wirtschafts- und Finanzkrise und um "emanzipatorische Handlungshorizonte" daraus, wie das Ulrich Brand nennt. Er sieht z.B. in der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung einen Hebel, um mehrere Krisendimension herrschaftskritisch zu politisieren.

Birgit Sauer schreibt über "Paradoxien feministischer Staatskritik". Gerade in der Krise zeige sich die Privilegierung männlicher Interessen durch staatliche Regelungen, während diejenigen von Frauen marginalisiert werden: "Rettungsaktionen für sogenannte 'systemwichtige' Banken und die Automobilbranche zeugen davon, dass die staatliche Benachteiligung von Frauen gerade in der Krise fröhliche Urstände feiert − Frauenarbeitsplätze, z.B beim Versandhaus 'Quelle', wurden nicht als 'systemwichtig' qualifiziert." Dennoch dürfe frau nicht den männlichen Staat abschreiben. Sauer hält fest, dass es "kein 'feministisches Jenseits' des Staates gibt, keine wie immer verklärte Zivilgesellschaft, in der Freiheit und Autonomie einfach, also konflikt- und herrschaftsfrei realisierbar wären. Dies war lange eine frauenbewegte Illusion. Vielmehr führt der Weg zu Freiheit und Selbstbestimmung durch Kämpfe bzw. Auseinandersetzungen im und mit dem Staat."

Dienstag, 22. Juni 2010

spw 177



spw
Heft 177 (2/2010)
April 2010
63 S.







Aus der Krise kann man sich nicht herausschrumpfen, sondern nur herauswachsen.
Der Heftschwerpunkt widmet sich der Diskussion des Wirtschaftswachstums und hier der Frage "Was soll eigentlich wachsen?". Denn, wie Simon Sturn und Till van Treeck in ihrem Plädoyer für gleiche Verteilung und ökologische Orientierung feststellen, kann Wirtschaftswachstum "ein besseres Leben ermöglichen, es zugleich aber auch verhindern".
Das hier gebotene Meinungsspektrum reicht von der Position von Tanja von Egan-Krieger und Barbara Muraca, daß weiteres "Wachstum in den Industrieländern weder erreichbar noch wünschenswert ist" bis zur nicht falschen Stellungnahme des deutschen Gewerkschafters Wolfgang Rhode, Aussagen über befriedigte oder falsche Bedürfnisse der Bevölkerung "spiegeln häufig nur das Lebensgefühl bestimmter Milieus wider, haben aber mit der Lebenswirklichkeit vieler Menschen wenig gemein. Einer Verkäuferin, oder einem Ein-Euro-Jobber die Leitlinie vom Verzicht als Gewinn vermitteln zu wollen, läuft ins Leere; sie/er verzichtet schon an allen Ecken und Enden." Er plädiert für ein "Wachstum zu Gunsten von Arbeit und Umwelt". Da bin ich näher bei der Lebensrealität als beim philosophischen Zugang.

Christina Ujma würdigt in einem Artikel zu deren 50. Geburtstag die englische Zeitschrift New Left Review. Sie streicht vor allem deren "intellektuelle Rigorosität" hervor. Dem kann ich mich nur anschließend, auch wenn ich selbst die Lektüre 2003 aufgegeben hab, nach nur zweijährigem Abonnement. Aus damaligen finanziellen Erwägungen und aufgrund des bei mir schon immer überbordenden Zeitschriftenberges, denn inhaltlich waren die Artikel immer sehr gut.

Freitag, 18. Juni 2010

Prokla 158




PROKLA 158
Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft
40.Jg., Nr.1, März 2010
145 S.







Postkolonialen Studien als kritische Sozialwissenschaft ist das Heft gewidmet. Dieser Ansatz beschäftigt sich "mit den Nachwirkungen des Kolonialismus in ehemals kolonisierten und ehemals kolonisierenden Gesellschaften oder, abstrakter formuliert: mit der Analyse und Kritik von Herrschaftsverhältnissen im weiteren Zusammenhang mit dem historischen Phänomen des Kolonialismus", wie das Editorial formuliert.

Durchaus spannend wird dies ausgeführt von Tanja Ernst anhand der Frage von Theorie und Praxis der Begriffe Demokratie und Autonomie als Teile der westlichen Ideengeschichte in der identitätspolitischen Bewegung der Indigenas in Bolivien. Dazu gibt es weiters interessante Beiträge über die nicht so einfache Differenzierung von Faschismus und (Anti-)Kolonialismus in Indien oder der Anwendung des Konzepts des Orientalismus im Verhältnis von (Süd-)Korea und Japan. Sook-Young Ahn und Ralf Havertz zeigen an letzterem Beispiel, wie die japanische Kolonialmacht mit aus westlichem Zusammenhang geläufigen Mustern der Rede von Modernisierung und Fortschritt ihre Herrschaft begründete.

Dienstag, 15. Juni 2010

Blätter, Juni 2010



Blätter für deutsche und internationale Politik
Heft 6/2010
128 S.








James K. Galbraith schreibt über die zu wenig beleuchtete Rolle von Betrug in den Analysen der Wirtschafts- und Finanzkrise, Dietrich Schulze-Marmeling eine Emanzipationsgeschichte des afrikanischen Fußballs. Interessante Artikel.

Dazu gibt es einen großen Bogen von Heribert Prantl zu lesen, den er von der − von ihm doch etwas idealisierten Professoren- und Gelehrtenrepublik von 1848 − bis zur Bedrohung der Pressefreiheit durch wirtschaftliche Zwänge heute schlägt. Man muß nicht immer zustimmen, aber faszinierend geschrieben.

Montag, 7. Juni 2010

Datum 6/10



Datum
6/10
98 S.







Über die Ermordung von 223 jüdischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern im niederösterreichischen Ort Hofamt Priel in der Nacht von 2. auf 3. Mai 1945 schreibt Manfred Wieninger einen nüchternen und darum umso berührenderen Text. Es sind diese unzähligen "kleinen" Morde und Massaker unter den monströsen NS-Verbrechen, die mich immer wieder erschüttern und es mir daher z.B. persönlich unmöglich machen, ihre Comic-hafte Verzerrung im Film als reines Kunstprodukt sehen zu können. Dazu schildet Wieninger die Geschichte des Revierinspektors Franz Winkler, der heldenhafterweise noch am 3. Mai förmliche Ermittlungen gegen die Mörder der SS und mutmaßliche örtliche Helfer aufnahm. Aber sowohl damals (verständlicherweise) als auch nach der Befreiung (zur Schande der Republik) werden die Verantwortlichen nicht ausgeforscht. "In der Folge gehen verschiedene österreichische Gerichte Winklers Hinweisen und weiteren Spuren mit der Energie einer gelähmten Schnecke nach." schreibt Wieninger.

Sehr gute Artikel bietet das Heft noch über Burkhard Pape, der in den 1970er Jahren Trainer der ugandischen Fußballnationalmannschaft zur Zeit des knöcheltief im Blut watenden Diktators Idi Amin war. Er ließ sich durch solche äußeren Umstände aber nicht von seiner Fokussierung auf den Sport abhalten und war mit Amin gut Freund. Auch nett ein Artikel über die Jugendarbeit des ÖFB sowie außerhalb des lobenswerten Fußballschwerpunkts Clemens Marschalls Text über Geschichte und Gegenwart der Zirkusattraktion der menschlichen Kanonenkugel.

Soweit das Positive. Wirklich schlimm war nämlich der "Erklärungsversuch" der tatsächlichen Unzulänglichkeiten des deutschen Politikers Guido Westerwelle von Tom Liehr und Markus H. Kringel. Sie sehen diese darin begründet, daß er schon als Jugendlicher politisch aktiv wurde. Wo doch Leute, die so etwas machen, per se "aknevernarbt, hyperhidros, motorisch untalentiert, gnadenlos unhip und trendfremd, musikalisch abwegig interessiert und obskur angezogen" seien.
Liehr und Kringel teilen die Jugend in einem demokratiepolitisch fragwürdigem Ansatz in "diejenigen, für die echter Spaß im Hörnerabstoßalter auch erreichbar ist, auf ihren Mofas durch die Innenstädte cruisen, die Großraumdiskos bevölkern, bei Konzerten headbangen und die Mädchen aus den zurückliegenden Jahrgängen in die Horizontale quatschen" und auf der anderen Seite die "Adoleszenten-Freakshows" in den politischen Jugendorganisationen von SPD, CDU und FDP, also diejenigen Jugendlichen, "die schlicht anderswo keine Chance haben".
Die Autoren dürften in ihrer Jugend frei von politischen Überlegungen gewesen sein − wohl nach Monty Python's Devise "my brain hurts". Leider schreiben sie nicht, ab welcher Altersgrenze sich junge Männer (gilt das auch für die "in die Horizontale gequatschten" Frauen?) nach ihrer p.t. Demokratietheorie denn für den Blick über den Tellerrand statt Motoren, Musik und Mädchen interessieren und vielleicht sogar ihr Scherflein zur Demokratie beitragen dürfen. Oder welche Organisationen alternativ konvenieren würden. Denn, daß die Jugend als Guido Westerwelle endet, da sind wir uns einig, das wollen wir nicht.

Sonntag, 6. Juni 2010

Waidhofen/Ybbs

5.6.2010

Die Stadt an der niederösterreichischen Eisenstraße wurde am Weg zu einem Fußballspiel des örtlichen Vereins kurz erkundet. Im Spätmittelalter konkurrierte man als Zentrum der Eisenverarbeitung mit Steyr. Davon zeugt eine geschlossene Altstadt. 11.500 Menschen leben heute in Waidhofen, davon allerdings weniger als die Hälfte im eigentlichen Stadtgebiet.

Das sogenannte Rothschildschloß am Rand der Altstadt. So benannt, da hier 1875-1938 die Gutsverwaltung der Rothschild-Ländereien der Gegend saß. Die erste Burg wurde hier im 12. Jh. errichtet. 1881 erfolgte eine neugotische Umgestaltung unter weitgehendem Verlust der mittelalterlichen Bausubstanz. 2007 gab es von Architekt Hans Hollein angeleitete Ergänzungen, gut erkennbar der Glasaufbau am Bergfried links im Bild.


In einem Kreisverkehr wurde ein historischer Doppelschwanzhammer aufgestellt (vorne), in Erinnerung an die jahrhundertealte Eisenverarbeitungstradition. Im Hintergrund die spätgotische Stadtpfarrkirche mit barockisierter Außenansicht.


Der Stadtturm im Zentrum der Altstadt. 1535-42 aus der Beute nach Vertreibung eines türkischen Heers vor den Mauern der Stadt 1532 aufgestockt. Die Aufschrift aus dem Jahr 1932 besagt, daß dies als Zeichen des Sieges geschah, was historisch nicht belegt ist.


Ansicht der Stadt von der Zeller Hochbrücke aus, 1898 als erste hochwassersichere Brücke hoch über dem Fluß Ybbs errichtet.

Donnerstag, 3. Juni 2010

Blätter, Mai 2010



Blätter für deutsche und internationale Politik
Heft 5/2010
128 S.








Zwei interessante Essays zu linker Politik bietet das Mai-Heft. Tony Judt und Birgit Mahnkopf sehen beide die Zukunftschance der Sozialdemokratie in der Entmystifizierung ökonomistischen, neoliberalen Denkens. Mit durchaus unterschiedlichen Ansätzen. Setzt Judt auf Rückbesinnung, legt Mahnkopf ihr Augenmerk auf Zukunftskonzepte.

Tony Judt legt das Schwergewicht auf die Erinnerung an die Leistungen des Sozialstaats, die in den letzten Jahrzehnten abgebaut wurden. "Sollte die Sozialdemokratie eine Zukunft haben, so als eine 'social democracy of fear', eine Sozialdemokratie der Besorgnis. Statt zu versuchen, eine optimistische Fortschrittssprache zu restaurieren, sollten wir lieber anfangen, uns mit der jüngeren Vergangenheit wieder vertraut zu machen. Die erste Aufgabe für radikal Andersdenkende besteht heute darin, ihrem Publikum die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts ins Gedächtnis zu rufen, und gleichzeitig bewusst zu machen, welche gefährlichen Folgen unser blinder Eifer, diese abzuwracken, wahrscheinlich nach sich zieht." schreibt Judt.

Birgit Mahnkopf tritt ebenfalls für einen "Machtwechsel der Ideen" und "die Entzauberung des neoliberalen Glaubens" ein. Letzterer kann für sie aber nur "durch nicht minder mutige Utopien" gebrochen werden. Als Paradigmen, die entzaubert und durch zukunftstaugliche Alternativkonzepte ersetzt" werden müßten, identifiziert sie Wettbewerb und internationale Wettbewerbsfähigkeit (sie stellt dagegen Kooperation statt Konkurrenz), die Fixierung auf Steigerung von Effizienz und Produktivität (zu eindimensional, oft kurzsichtig gedacht statt langfristig sinnvoll), die Kritik des Protektionismus (stattdessen Handel nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel sehen) sowie das zentrale Wachstumsparadigma (Fokus auf Umverteilung statt Fetisch Wachstum).